Angstblüten 6 – Danja Schilling & Ronald Gonko
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Was ist die Definition von Liebe?
Text von RADHARANI PERNARČIČ (original text in Slovenian)
Hommage an Cirkulacija 2 und Rezension der Klangperformance Angstblüten II / Timor Flores II von Danja Schilling und Ronald Gonko, Tobačna, Ljubljana 2019.
2019, als sich die Performance-Szene Ljubljanas zur Eröffnung des CoFestivals versammelt, bei dem ich eigentlich hätte anwesend sein sollen, geht mir auf halbem Weg zur Šiška etwas „auf den Sack“: Ich drehe einfach um und fahre zur Cirkulacja 2. Hätte ich meine Pläne nicht spontan geändert, wäre dieser Moment des Zögerns als „Laune“ verkommen und wahrscheinlich schnell vergessen. Da ich aber auf die Irritation hörte, kann ich postum sagen, ich sei buchstäblich gerufen worden. Denn sowohl der Moment meines Richtungswechsels als auch die Aufführung entpuppen sich als bedeutungsvolle Geschichte darüber, wie eigentlich alles menschliche Handeln in einem Pendelschwung zwischen Selbstvernichtung oder der Frage nach der Bedingung von Möglichkeiten steht; und wie sehr das Leben davon abhängt, wofür wir uns entscheiden, ob die Dinge ins Stocken geraten oder sich einem in den Weg stellen. Und gibt es einen Weg, dann hat er eine Bedingung: Er kann nur im Raum realisiert werden.
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„… eine transformative Reise des Besuchers zum Betrachter/Zuhörer und zum Inhalt, zur Natur der Performance selbst… „
Wenn man die Industriehalle Cirkulacja 2 betritt, betritt man nicht nur einen Veranstaltungsort, sondern auch eine bestimmte Kultur – im anthropologischen Sinne des Wortes. Der prägende Teil der Erfahrung beginnt eigentlich schon draußen. Wenn man, um zum Eingang zu gelangen, einen langen, leeren Korridor zwischen den beiden halb verfallenen Gebäuden der Tabakfabrik hinter sich bringen muss, in welchem nichts des Lärms der umgebenden Betriebsamkeit existiert, und man ganz allein auf die Sounds der eigenen Schritte zurückgeworfen wird. Ich betrachte es als notwendiges Übergangsritual, das dem Alltags-Ich ermöglicht, sich in einen geistesabwesenden Zuschauer zu verwandeln. Der Raum der riesigen kalten Halle empfängt einen dann gleichzeitig mit physischen wie intersubjektiven Eigenschaften. So sehr man ihn auch als hässlich bezeichnen möchte, ist er in Wirklichkeit genau das, was wir brauchen. Seine nicht-determinierte physische Leere ermöglicht es Schöpfern, immer wieder Neues zu erschaffen, anstatt nur das Ereignis an sich – im Sinne einer vorbestimmten Gegebenheit – zu installieren. So wird in Cirkulacja 2 das Raum-Ereignis auch in einem interrelationalen Sinne immer wieder neu konstruiert. Wenn Sie glauben, dass Sie einfach hineingehen, sich auf Ihren Platz setzen und los geht’s, dann haben Sie mindestens so viel verpasst wie Edward T. Hall, als er in seinem Eifer, ein Ritual der Pueblo-Indianer zu studieren, den ganzen Weihnachtstag dümmlich auf die Uhr schaute und sich fragte: „Wann geht’s denn endlich los? Und genau wie damals lautet die Antwort auch hier: wenn die Dinge fertig sind. Im Fall von Timor Flores II scheinen alle Akteure und das relativ kleine, aber dafür umso eingeschworenere Publikum ein geheimes Verständnis hierfür zu besitzen und zu pflegen.
In diesem Sinne sollten wir nicht den Fehler machen, zu denken, dass es sich hier um eine weitere jener Als-Ob-Szenen handelt, die Alter mit Ausschweifung gleichsetzen, nach dem Motto: Alter = „anything goes“. Vielmehr ist der Modus vorherrschend, in dem das typische Theater- oder Konzertformat der Abgrenzung so gar keinen Platz hat. Das freie Umhergehen auf dem Aufführungsgelände selbst und der angenehme Austausch von Bedeutungen mit anderen, auch unbekannten Besuchern, mit der Cirkulacja-Crew und vor allem mit den Performern selbst ist in der Tat ein unaufdringlicher, aber wesentlicher Prozess der kollektiven Einstimmung. Auf diese Weise wärmen sich alle vor der Veranstaltung auf, nicht nur Performer hinter einer Bühne. Obwohl Debatten über die Notwendigkeit und Versuche, ein solches kollektives Vorwärmen in der Performancekunst einzuführen, immer häufiger werden, ist Cirkulacja 2 bisher der einzige Space, in dem dies wirklich, tatsächlich und real geschieht – wo Produktion = Sein = Kreation = Ereignis in vollem Umfang gilt. Nach dieser Logik ist diese Rezension ein Exkurs, der weit über die Performance hinaus etwas aussagen will. Es ist der Versuch, etwas schreibend festzuhalten, was die Dimensionen des Zusammenlebens, oder besser gesagt, die Bedeutung von Zusammenleben überhaupt befragt.
Wo selbst die Haxe keine klassische Haxe ist, überraschen uns die Gastgeber dieses Mal zuerst mit Glühwein. Sie führen einen in eine Methode der improvisierten Bedienung ein, die jeder Besucher dann an die ankommenden Besucher weitergibt, und das Ganze entwickelt sich spontan zu einem System, das fast an ein trobrianisches Ritual erinnert. Ronald und ich verbringen 5 Minuten damit, uns gegenseitig zu befragen, woher wir uns kennen. Ein paar ‚Fans‘ um uns herum lächeln mit uns. Langsam fangen wir alle an zu flirten. Irgendwann wissen wir intuitiv, dass alles seine ‚innere Bereitschaft‘ erzeugt hat. Performer und Besucher tropfen einvernehmlich in die Performance-Zone. Danja Schilling (a.k.a. Anita Groschen; Gesang) setzt sich an einen Tisch. Ronald Gonko (Noise) dreht sich auf dem Weg zu ihr um und gibt ihr einen kurzen, völlig unbewachten zärtlichen Kuss. Wie ein Mann, der eine Frau schätzt und in diesem Moment wirklich von ihr ergriffen ist. Danja nimmt sich im Stile einer echten Diva, die sich von keinem Druck überwältigen lässt, alle Zeit der Welt, um sich vor unseren Augen zu schminken. Während ihres öffentlichen Garderobenmoments, die Augen der Zuschauer dienen ihr als Spiegel, bringen Ronald und Stefan Doepner eine experimentelle Ouvertüre zu Gehör. Danja beendet ihre letzte Schminkhandlung. Ronald merkt es erst im Rücken, dann im Augenkontakt. Seine Finger versenken sich in den Drehreglern seiner Syntheziser. Als sich die Versammlung in der performativen Welt seiner Geräusche verliert, überrascht Danja noch am Schminktisch sitzend mit kristallklarem klassischem Gesang. Eine Kombination zu der einem anfangs die Worte fehlen. Aber mit Sicherheit können wir sagen, dass dies genau die gleiche fraktale Struktur besitzt, mit der diese Produktionsplattform jeden einzelnen Tag realisiert.
Timor Flores II ist das Kondensat einer einwöchigen residency, während derer das Performer-Duo mit voller Unterstützung des Teams von Cirkulacja 2 ein ortsspezifisches Kunstwerk/Event erschaffen – eine transformative Reise des Besuchers zum Betrachter/Zuhörer und zum Inhalt, zur Natur der Performance selbst. Obwohl in der Ankündigung zu lesen ist, dass es sich um ein Crossover handelt, um „eine theatrale Konzertperformance an der Grenze zwischen Barock, dem sogenannten Deutschen Lied und Lärm“, ist dies meiner Meinung nach zu bescheiden. Es geht um genau das, was diese Zeit und Kultur nicht versteht, ja sogar austreibt: die Koexistenz zweier unterschiedlicher Welten, die sich gegenseitig zu hören wissen. Ich möchte sagen, dass ich noch nie eine Aufführung gesehen habe, die einfach die Definition von Liebe ist.
Damit rücken zwei Phänomene in den Fokus, die sich zunächst einmal allein durch die Kostümierung zweier unterschiedlicher Welten begründen: die sogenannte hohe, elitäre Kunst, verkörpert durch die kurvenreiche, klassische Sängerin mit ihrem gut geschnittenen, eleganten schwarzen Kleid und dem Hut, der ein wenig an Kosaken erinnert, und die sogenannte Alternative mit ihrem charakteristischen „lässigen“ Stil einer abgetragenen graugrünen Jacke und leger wirkenden Hosen. Sie stehen sich mit dem Rücken zugewandt gegenüber und vertreten jeweils ihre eigene Linie – Unabhängigkeit, handwerkliches Können und Geschick strahlen von beiden aus. Gonkos Bewegung zwischen den elektronischen Geräten ist mindestens so unperformativ wie das häusliche Scrollen eines Mannes durch seine Wohnung. Danjas Stehen vor dem Mikrofon ist aufrecht, präsent und fängt die Gestik der klassischen Performance perfekt ein. So überraschend es auch sein mag, die beiden arbeiten perfekt zusammen. Und aus diesem Urvertrauen erwächst eine noch exzellentere Groteske. Nach und nach bringen sie originelle, humorvolle Details in die Gesamtatmosphäre ein: Danjas fantasievoll übertriebene theatrale Mimik und Gestik; oder ihr in ein Weinglas geblubberter Gesang; Gonko sinniert während des ernstesten Liedes um sie herum und dank eines in seiner Tasche versteckten Spielzeugs klingt sein ganzer Körper, als würde er zwitschern und pfeifen. Ab und zu verzerrt der verliebte „Gigolo“ seine Töne oder bläst in ein langes improvisiertes Horn, das den Zuhörer mit witziger Unbekümmertheit im Sturm erobert.
Ihre groteske Note überschreitet nie die Grenze zum „Tun-eines-Dings“. Sie bleibt liebenswert spielerisch und untergräbt in keiner Weise ihre Professionalität (Performance und Haltung). Obwohl jeder in seinem eigenen Raum steht, interagiert und kooperiert alles. Es herrscht ein gegenseitiger Respekt, Vertrauen und Zuhören zwischen diesen beiden Rücken. Und das – das mit den zwei Rücken – klingt auf den ersten Blick so paradox wie Gonkos Eröffnungssatz: „Die Leute hören nicht einmal zu, wenn sie lesen“; aber er trifft tatsächlich genauso ins Schwarze, wenn wir das Verb zuhören wirklich verstehen.
Dass das universelle Festhalten an wiedererkennbaren Produktionsformaten sowie der Imperativ für ein massenhaftes (aber unregelmäßiges und nur sporadisch interessiertes) Publikum sogar kontraproduktiv sein kann, zeigt schon Cirkulacja 2 selbst mit seinem anderen Konzept: Dass die Unterscheidung und Abgrenzung von elitärer Kunst und Kultur gegenüber alternativer Kunst und Kultur ein überflüssiges soziales Konstrukt ist, wird durch die Performance selbst sehr schön demonstriert. Ähnlichkeit/Verwandtschaft mag zwar manchmal das Zusammenleben erleichtern, ist aber keineswegs notwendig. In einer Zeit, in der wir immer noch Angst vor Migranten haben, in der die Kluft zwischen den sozialen Klassen immer größer wird und in der wir selbst in persönlichen Beziehungen nur noch eine Verdoppelung unserer selbst im anderen suchen, sollte diese Arbeit daher eigentlich von jedem gesehen werden – einem Mitglied der einen, der anderen oder der siebten Welt.
Denjenigen, die immer noch bezweifeln, dass all dies auch für das CoFestival gut wäre, antworte ich: keine Sorge! Es war genau diese kohärente zwischenmenschliche Ansprechbarkeit, die am nächsten Tag eine Traube von Cirkulacja-Zuschauern dorthin führte. Denn nur eine kontinuierliche Verbindung ist wirklich eine Verbindung. Und manchmal muss man vom Weg abkommen, um Eingang zu einem anderen zu finden.
Übersetzung ins Deutsche: Danja Schilling.
RADHARANI PERNARČIČ ist Künstlerin für zeitgenössische darstellende Kunst, Tanzpädagogin, Dichterin und Kulturanthropologin.